Annapurna-Umrundung

Das Höhenprofil der Annapurna-Umrundung lässt einen zuerst etwas erschaudern – schließlich geht es durch das Marsyangdi-Tal von 750 Höhenmetern in Besisahar bis auf 5400 Metern zum Thorong La hinauf. Doch der Aufstieg verläuft ganz allmählich, so dass genug Zeit bleibt, sich in den kleinen Dörfern zu akklimatisieren. Tagesetappen von etwa 5-6 Stunden lassen genug Zeit für eine ausgiebige Mittagsrast und das Kennenlernen der erst nepalisch-hinduistischen, später tibetisch-buddhistischen Kultur. Vorbei an den Dörfern Braga und Manang, in denen es (fast) alles zu kaufen gibt, rückt der Pass immer näher.

Noch in der Dunkelheit und im Schein der Taschenlampen beginnt der anstrengende Aufstieg zum Thorong La – doch irgendwann sieht man die bunten Gebetsfahnen, die auf der Passhöhe wehen. Auf der anderen Seite belohnt das Heiligtum Muktinath seine Besucher mit dem Zusammenschluss der Elemente: eine Flamme, die auf Wasser brennt, Erde, Luft und der sphärische Raum vereinen sich. Nun geht es hinunter nach Kagbeni, einem Dorf, das an der alten Handelsroute nach Tibet liegt. Von jetzt an wandert man im Kali-Gandaki-Tal weiter. Ein lohnenswerter Seitenausflug ist das Kloster von Lupra, das nach der alten schamanistischen Bön-Tradition gebaut wurde. In Marpha gibt es – mitten im Himalaya – frische Äpfel und Tatopani lockt mit seinen heißen Quellen, kaum drei Tage, nachdem man noch im Schnee gelaufen ist. Zum Abschluss der Tour folgt noch mal ein Aufstieg auf 3500 Metern nach Ghorepani, wo man morgens früh den Sonnenaufgang über den beiden 8000ern Annapurna und Dhaulagiri bestaunen kann. Nach der dreiwöchigen Tour lädt Pokhara, eine kleine, gemütliche Stadt am Phewasee, zum Ausspannen und Shoppen ein.

Ein Tag bei Shivas Familie
Shiva hat mich eingeladen, ein paar Tage bei seiner Familie in ihrem kleinen Haus am Stadtrand von Kathmandu zu verbringen. Ich soll schon zum Frühstück da sein, also heißt es, morgens früh aus den Federn zu krabbeln. Die Sammeltaxis sind noch recht leer, und der Verkehr ist mäßig, so dass ich schnell voran komme. Hinter Swayambhunath Stupa steige ich aus, muss noch etwa 20 Minuten über den staubigen, nicht asphaltierten Weg laufen. Shivas Haus kommt in Sicht, die Familie steht auf der Dachterasse und hält schon Ausschau nach mir. Die 13jährige Sina läuft mir entgegen, sie und ihr jüngerer Bruder Sujan kennen mich noch von den vorigen Besuchen. Nur das Nesthäkchen Sushmita ist verunsichert, mit ihren zweieinhalb Jahren hat sie die „jarmanko didi“, die deutsche Schwester, schon wieder vergessen. Der Duft von Räucherstäbchen lieg in der Luft. Ich werde in die Küche gebeten, wo mir Shivas Frau Sushma erst mal Tee bereitet. Wir sitzen auf dem Fußboden, „nepali style“ wie Shiva sagt. Dann essen wir gemeinsam, es gibt roti (Fladenbrot), Kartoffeln und natürlich den leckeren Gewürztee. Nach dem Frühstück lerne ich mit Sina: wir arbeiten mein Nepali-Lehrbuch und ihre Englisch-Hausaufgaben durch und freuen uns über unseren Sprach-Mischmasch. Sushmita hat inzwischen festgestellt, das ich ja doch ganz praktisch bin. Sie fragt Shiva, wo er mich gefunden hat und bringt mir einen kleinen, getrockneten Fisch zum probieren, den sie ihrer Mutter abgeluchst hat. Sushma hat Fischcurry für das Abendessen vorgesehen.

Später gehe ich mit Shiva spazieren. An riesigen Bambusstauden vorbei, laufen wir durch das ländliche Gebiet, wo das Leben noch wie vor hundert Jahren abläuft. Es gibt kein fließendes Wasser in den Häusern und Hütten, die Hühner rennen herum und Frauen bestellen die Felder. Wir diskutieren über die politische Situation in Nepal und über seine und meine Zukunftspläne.

Am Nachmittag fahren wir gemeinsam nach Thamel, wo Sushmas Familie lebt. Die Frauen haben großen Spaß dabei, mich kunstvoll in einen Sari einzuwickeln. Das Oberteil dazu hat Shivas Schwägerin extra für mich genäht. Es ist ein Geschenk der Familie. Noch ein Tika, das rote Segenszeichen auf die Stirn und ich sehe fast aus wie eine Nepali-Frau.
In der Nacht werde ich durch ein Geräusch geweckt: draußen kreischen ein paar Affen. Doch schon bald herrscht wieder Ruhe, und nur die Zikaden und Uhus rufen leise. Am nächsten Morgen werde ich durch den Duft von Räucherstäbchen geweckt: Sushma bittet die Götter um ihre Gunst für den nächsten Tag.

Sigrid Noll, Kathmandu 2004